Die Sihl: Ein gefährlicher Fluss

Eisgang der Sihl
Nicht immer war die Sihl das friedliche Gewässer, das sie heute ist. Gefürchtet waren in alter Zeit die massiven Eisgänge, die auf der Sihl zu beobachten waren und Brücken und Ufer beschädigten. In der Vorfrühlingszeit kamen sie öfters vor, besonders hartnäckig im Jahre 1758, was unser Kupferstich festhält. Auf der Ansicht erkennt man den Zusammenfluss der Sihl mit der Limmat am Platzspitz. Links im Mittelgrund der ehemalige Schützenplatz, weiter rechts die damals noch gedeckte Sihlbrücke und die Kapelle zu St. Jacob. Auf dem linken Sihlufer, in der Gegend der heutigen Kaserne, das Quartier "im Kreuel". 1m Hintergrund der Üetliberg und das Bürgli ob der Enge. Es fällt auf, wie wenig besiedelt die Gegenden ausserhalb der Stadtmauern waren.

Bis vor Hundert Jahren wurde auf der Sihl geflösst (Text von Eberhard Brecht)

Sooft wir uns vergegenwärtigen wollen, welche Mühe es einer mittelalterlichen Stadt bereitete, ihre allerprimitivsten Existenzgrundlagen in der Form von Wasser und Holz, vielleicht auch von anderem Baumaterial und dergleichen, sicherzustellen, müssen wir unsere auf andere Perspektiven eingestellte Phantasie ganz gehörig anstrengen. Das Umdenken wird eventuell erleichtert, wenn wir uns daran erinnern, dass zum Beispiel die Stadt Zürich noch heute über ansehnliche und grossenteils gut gepflegte Waldungen verfügt. Diese sind allerdings wirtschaftlich unwichtig geworden. Was wir für Gerüststangen, für Möbel oder für Kistenbretter an Holz brauchen, könnte ebensogut durch private Waldbesitzer erzeugt werden. Früher aber versah das Holz auch weitere Aufgaben, die sich jetzt auf das Gas, die Elektrizität, die Kohle und das Rohöl verteilen. Waldbesitz bildete eine Voraussetzung für das Dasein einer früheren Stadt.

Vom Waldbesitz der Stadt

Bereits im ältesten Gesetzbuch der Zürcher, im sogenannten Richterbrief, sind Bestimmungen enthalten, aus denen hervorgeht, dass die Stadt ungefähr im Zeitpunkt des Rütlischwurs das Nutzungsrecht an bedeutenden Wäldereien im Sihltal besass. In Wirklichkeit stand ihr dieses Recht damals schon seit Jahrhunderten zu. Das volle und formelle Eigentum, an den Waldungen beidseits der Sihl im Banne unserer heutigen Gemeinden Horgen und Langnau ist jedoch erst später - teilweise im Zusammenhang mit dem Königsrnord bei Windisch - an Zürich gefallen. Dieser Sihlwald ist zwar nicht der einzige, aber bei weitem der ausgedehnteste Forst der Stadt. Obschon die Beziehungen über tausend Jahre alt sind, dürfen bloss wenige Einwohner des grossen Zürich von sich behaupten, dass sie diesen Wald wirklich kennen und auch lieben. Wenn der bereits erwähnte Richterbrief aus der Zeit um 1300 herum davon spricht, "was holzes die sile nider trait", so verweist dieser Ausdruck auf die bis über die Mitte des letzten Jahrhunderts hinaus übliche Form des Holztransportes. Ausser dem Flössen bestand damals keine andere Möglichkeit, das Holz aus dem Wald an den städtischen Verbrauchsort zu schaffen. Es wurde zur Sihl geschleppt, dort ins Wasser geworfen und in Zürich wieder herausgefischt. Natürlich war für Nutz- und Bauholz eine solche Beförderungsart wenig geeignet. Wohl scheinen bisweilen auch ganze Stämme auf Rechnung und Gefahr von städtischen Handwerksmeistern, die sie im Wald erworben hatten, geflösst worden zu sein, doch das Transportgut bestand hauptsächlich aus Brennholz. Etwa die Hälfte dieses Holzes kam den Ratsherren zu. Der grösste Teil des Restes gehörte anderen Inhabern öffentlicher Ämter oder bestimmten Pfründen. Der Holzanfall dürfte im Laufe der Zeit geschwankt haben. Für einzelne Jahre sind indes Angaben verfügbar, die auf eine Grössenordnung von tausend bis zwölfhundert Klaftern schliessen lassen. Soweit die geschlagene Holzmenge hinter dem Bedarf zurückblieb, ist die Stadt ihren Verpflichtungen gegenüber den Bezügern durch Holzankäufe im Kanton Schwyz nachgekommen. Umgekehrt konnte der Fall eintreten, dass die Stadt Holz aus dem Sihlwald an Schuldner lieferte oder an benachbarte Kantone veräusserte. Mit dem Untergang der alten Staatsordnung ist die Abgabe von sogenanntem Kompetenzholz an die Ratsherren und die übrigen Bezugsberechtigten dahingefallen. Von 1803 an wurde auf Beschluss der Gemeindekammer alles Holz als Bürgernutzen an die Bürgerhaushaltungen verteilt. Die zum Flössen dienenden Anlagen und Einrichtungen waren im Verlauf der Jahrhunderte ständig verbessert wor-den. Es steckte einiges Kapital darin. In der Stadt nahm die Sihl damals einen anderen Verlauf als jetzt. Ungefähr beim Bahnhof Giesshübel holte sie nach links aus und umfing das Sihlhölzli auf der äusseren Seite, also unserer Manessestrasse entlang.

"Wilde Sihl" und "zahme Sihl"

Von dieser "wilden Sihl" ist die "zahme Sihl" abgeleitet worden. Der Kanal, der diesen Namen trug, folgte mehr oder weniger dem gegenwärtigen Lauf der Sihl. Ein Wuhr zwischen dem Bahnhof Giesshübel und der Mitte der Sihlpromenade führte dem Kanal das Wasser zu, das für den Betrieb von Mühlen benötigt wurde. Es war rund dreihundert Meter lang. Ein davor angebrachter Rechen leitete das herangeschwemmte Holz in den Kanal. Hier musste es gleich am Anfang ans Ufer gezogen werden, bevor das Wasser bei der Sihlporte den Schanzengraben kreuzte und hernach die verschiedenen Wasserräder zu treiben hatte. Das städtische Holzdepot befand sich deshalb an der Stelle des heutigen Bahnhofs Seinau. So idyllisch das Flössen auf der Sihl auch gewesen sein mag, ist doch der Zeitpunkt herangereift, in dem die alte Methode aufgegeben werden musste. Vor etwa hundert Jahren war sie überlebt. Kurz vor 1860 hatte die Stadt zwischen Langnau und der Zuger Grenze einen Holzabfuhrweg errichtet sowie die Verbindung zwischen Langnau und Adliswil hergestellt. Ein Teil der Kosten war von Anstössern aufgebracht worden. Die neuen Strassenstücke bildeten die Grundlage für einen das ganze Sihltal durchziehenden Verkehrsweg. Nun war die Möglichkeit gegeben, das Holz aus dem Sihlwald per Achse abzuführen. Die Beförderungskosten stellten sich bei dieser Transportart allerdings um eine Kleinigkeit höher, doch wurde die Verteuerung wettgemacht, indem das Buchenholz weniger an Heizwert einbüsste und indem die ganzen Stämme weniger beschädigt wurden. Die Forstverwaltung war dazu übergegangen, schon gleich im Sihlwald, wo eine Sägerei errichtet wurde, das Holz in die von den Verbrauchern gewünschte Form zu bringen und so zu stapeln. Hinzu kam, dass sich der Unterhalt der zum Flössen erforderlichen Einrichtungen infolge steigender Löhne und zunehmender Holzpreise verteuerte. Zudem hätte sich über den blassen Unterhalt hinaus auch ein weiterer Ausbau der Flössereieinrichtungen aufgedrängt, denn einesteils hatten die Schwyzer im Herkunftsgebiet der Sihl während der vergangenen Jahrzehnte ziemlich radikal abgeholzt, was die Hochwassergefahr vergrösserte, und andernteils waren die Zürcher im Begriff, ihr vom Sihlkanal durchflossenes Bahnhofquartier aufzupäppeln. Nachdem diese Probleme einige Jahre geschwelt hatten, hat dann tatsächlich ein Hochwasser den Anlass zur endgültigen Einstellung der Holzflösserei auf der Sihl gegeben. Unsere Sihl war immer ein übler Geselle. Noch jetzt kann sie furchterregende, schmutzige Wassermassen in die Stadt, bringen, obschon der Sihlsee im früheren Hochmoor von Einsiedeln dafür da ist, Überschwemmungskatastrophen zu verhindern. Vor hundert Jahren bestand erst ein mitleidig belächeltes Projekt, das Sihlhochwasser bei Schindellegi abzuzapfen und in den Zürichsee zu leiten. Als am Nachmittag des 25. Juli 1865 im Einsiedler Tal schwere Wolkenbrüche niedergingen, konnte man das mit dem kurz zuvor eingeführten Telegraphen nach Zürich melden. Dem entstehenden Hochwasser Einhalt zu gebieten oder seinen rasenden Lauf zu reduzieren vermochte aber niemand.

Das entscheidende Hochwasser

Das vorher wochenlang trocken gewesene Flussbett schien ob der plötzlich auftretenden Wassermenge erstaunt. Tags darauf hatte die Sihl um zehn Uhr morgens in Zürich eine bedenkliche Höhe erreicht, die bis drei Uhr mittags immer noch weiter zunahm. In Langnau und Adliswil wurden die Brücken weggeschwemmt. Die Höcklerbrücke folgte. Ebenso der Steg anstelle unserer heutigen Utobrücke, Teile des Holzes aus dem Sihlwald, losgerissene Uferverbauungen und zerstörte Brücken trieben in den tosenden Fluten. Der Rechen im Giesshübel leitete alles Treibgut pflichtgemäss auf den Kanal zu. Es staute sich vor den Schleusen, versperrte dem Wasser den Durchgang und wuchs sich zu einer ernsthaften Bedrohung aus. Man musste befürchten, der Druck des angesammelten Wassers werde die Kanalschleusen aufbrechen, worauf sich die Wassermassen samt dem Treibgut in den Kanal ergiessen und die an seinem Ufer liegenden Betriebe und Quartiere beschädigen würden. An einen geordneten Abbruch des Rechens innert nützlicher Frist war nicht rriehr zu denken. Da verfiel jemand auf die rettende Idee. Eine zufällig in der Nähe übende Militärabteilung erhielt den Befehl, mit ihren Zwölfpfünderkanonen den Rechen einzuschiessen. Wenige Monate darauf beschloss der Stadtrat, die Einrichtungen zum Holzflössen nicht wiederaufzubauen. Auch für die Abgabe des Bürgerholzes liess sich später eine zweckmässigere Lösung finden. In Zürich ist das Holzflössen auf der Sihl vergessen. Bloss einige Strassennamen erinnern noch daran. So besteht in der Gegend des Selnau eine Sihlamtsstrasse. Sie zweigt ab beim ehemaligen Sihlamtsgebäude, in dem heute das städtische Fürsorgeamt untergebracht ist. Jenseits der Sihl hält die Wuhrstrasse die Erinnerung an das frühere Wuhr wach. In den Namen Holzgasse und Flössergasse klingt der Gedanke an die ehemalige Verwendung der Sihl als Verkehrsweg vollends deutlich auf.